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Agile Methoden als dritter Weg für das Spracherlernen

Hallo Hr. Prof. Arguelles!

Ihre ehrlichen und hilfreichen Tipps schätze ich sehr.

Sie unterscheiden in Ihrem Podcast zwischen zwei Alternativen: Entweder ich plane meinen Lernprozeß systematisch oder eben nicht.

Aus eigener Erfahrung möchte ich noch einen dritten Weg vorschlagen, den ich als Konzept für sehr nützlich halte, nämlich den Ansatz agiler Methoden. Werde dein eigener Project Owner, Entwickler und Scrum Master in einer Person! Weitere Personen können natürlich einbezogen werden.

Ich bin auch eher zufällig über die Jahre zum Sprachenliebhaber geworden. Während meiner Schulzeit hatte ich ein sehr gespanntes Verhältnis zu Sprachen, hätte beinahe wegen schlechter Schulnoten in Englisch und Französisch als Sitzenbleiber ein Schuljahr wiederholen müssen.

Irgendwann hatte ich aber Feuer gefangen. Ich studierte in Frankreich, arbeitete in Japan, der Slowakei, Indien und China, reiste viel, pflegte intensive Kontakte nach Rußland und Georgien. Immer kamen neue Sprachen hinzu, nicht nur moderne Sprachen, sondern auch Altsprachen.

Ich begann, mich systematischer mit Sprachen zu beschäftigen, fing an, den Lernprozeß zu planen.

Alle Pläne sind jedoch am Ende krachend gescheitert!

Die Gründe für das Scheitern ähneln denen der mißglückten IT-Projekte: Die Bedarfe ändern sich ständig und die Entwicklungszeiten sowie Kosten sind schwer abschätzbar.

Viele Videos auf YouTube suggerieren, daß es einen schnellen Weg zu einer neuen Sprache gäbe. Hier wird die Komplexität des Lernprozesses völlig unterschätzt.

Was lerne ich denn eigentlich? Eigne ich mir eine Kompetenz an, nämlich die Fähigkeit, eine Sprache in Alltag und Beruf einzusetzen, oder strebe ich nach Kenntnissen über eine Sprache, nämlich dem expliziten Wissen über Phonetik, Grammatik, etc.?

Mich als Sprachenliebhaber auf Kompetenz zu beschränken, empfinde ich als unbefriedigend. Ich möchte auch verstehen, wie eine Sprache funktioniert, wie sie sich verändert, was sie von anderen unterscheidet, wie sie eingebetet ist, in das Beziehungsgeflecht der Sprachen der Welt, der Gegenwart und der Vergangenheit. Nennen wir es Metawissen.

Kompetenz hingegen kann meistenteils nur praktisch erworben werden ähnlich wie das Radfahren. Ein Großteil des Lernvorganges findet nicht einmal bewußt statt. Das Gehirn gewöhnt sich erst langsam an die fremden Laute, sie zu unterscheiden und sie zu bilden. Der flüssige Lesen einer unbekannten Schrift muß lange geübt werden. Diese Prozesse sind kaum in ihrer zeitlichen Dimension planbar. Es passiert einfach, fordert seinen zeitlichen Tribut. Am Ende weiß man gar nicht genau, was man eigentlich kann. Wieviele Worte hat man gelernt? In welcher Situation kann man sich verständigen? Welche grammatischen Konstruktionen beherrscht man? Alles liegt in den Tiefen des Unbewußten, bereit abgerufen zu werden, aber eben nicht im Augenblick synchron explizit präsent als Wissen. Deshalb wohl das Unbehagen vieler Polyglotte, wenn sie nach der Anzahl der “beherrschten” Sprachen gefragt werden.

Agile Methoden berücksichtigen genau diese Situation. Ich arbeite von Sprint zu Sprint, orientiere mich an kurzfristigen Zielen, kann meiner Neugierde folgen, aktuell: Ukrainisch.

Dadurch bleibt die Motivation erhalten, der Lernerfolg stellt sich am Ende ein, aber eben ganz anders, als man es vor einem Jahrzehnt für möglich gehalten hätte.

Mit freundlichen Grüßen,

Andreas Herbst


My reply:

Sehr geehrter Herr Herbst,

Vielen Dank für Ihren wichtigen Brief.

In meiner Behandlung vom Planen (oder nicht Planen) vom Spracherlernen, wollte ich nur vorschlagen, dass Leute, die schon wissen, daß sie fünf oder sechs bestimmte Sprachen erlernen wollen (z.B. Griechisch, Lateinisch, Arabisch, Persisch, Sanskrit und Chinesisch), einen guten Plan haben sollten. Dagegen können Leute, die eher die Idee mögen, ein Polyglott zu werden, weil sie gerne reisen und mit anderen Leuten sprechen, die Möglichkeiten ausüben können, die sie auf ihrem Lebensweg finden.

Aber natürlich haben Sie vollkommen Recht: in solchen Fällen gibt es nie ein einfaches Entweder-Oder. Es gibt immer mindestens einen dritten Weg, also eine Verbindung zwischen den Alternativen. Denken wir an These, Antithese und Synthese!

Ich empfand großes Mitgefühl für alles, was Sie beschrieben haben, und großen Respekt für Ihre Analyse der Gründe der Tatsache, daß alle Ihre Pläne am Ende krachend gescheitert sind, weil die Bedarfe sich ständig ändern, und die „Kosten“ im Lernprozess schwer abschätzbar sind.

Sie haben auch Recht, daß die Komplexität des unbewußten Lernprozesses häufig völlig unterschätzt wird, und dass es unbefriedigend ist, sich auf Kompetenz zu beschränken. Das mag wohl der Fall sein für viele, aber nicht für die, die irgendwie sich für Polyliteracy interessieren.

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass für manche Menschen langfristige Ziele und Pläne unangemessen sind. Vielen Dank dafür. Daher ist es offensichtlich besser für solche Leute zu arbeiten – wie Sie es so schön beschrieben – von Sprint zu Sprint und an kurzfristigen Zielen sich zu orientieren, um ihre Motivation zu behalten, was natürlich am Wichtigsten ist.

Danke nochmals, daß Sie alle diese wichtige Punkte hervorgebracht haben.

Mit freundlichen Grüßen,

Alexander Arguelles


Hallo Hr. Prof. Argüelles,

Einen herzlichen Dank möchte ich Ihnen dafür aussprechen, daß Sie sich auf meinen Kommentar hin Ihre wertvolle Zeit für eine ausführliche und einfühlsame Antwort genommen haben!

Einen weiteren Vorteil des agilen Entwicklungsprozesses möchte ich an dieser Stelle noch anmerken. Die Informatiker sind dazu übergegangen, statt einzelne Großsysteme zu entwickeln, viele kleine Applikationen zu programmieren, die auf ihre Anwendung jeweils ideal zugeschnitten sind.

Dieser Ansatz kann auch auf das Sprachenlernen übertragen werden. Muß ich denn wirklich in allen Sprachen eine perfekte Aussprache pflegen, fehlerfreie Sätze schmieden, den gesamten Wortschatz beherrschen?

Gut, ich dürfte dann nicht mehr damit prahlen, all diese Sprache zu beherrschen. (Was aber wären das auch für ärmliche Sprachen, die sich von mir beherrschen ließen 😉

Aktuelle ordne ich meine Sprachlandschaft und stelle mir folgende Fragen:

– Welche sind die Sprachen, auf die ich mich konzentrieren sollte, von denen aus ich mir weitere Sprachen mit geringem Zeiteinsatz aneignen kann?

– Sollte ich dabei eher auf Altsprachen wie Latein und Sanskrit setzen, oder besser auf deren Töchter (Französisch, Marathi)?

– Sollte ich besonders jene Sprachen weiter stärken, die ich durch Zufälle des Lebens besonders intensiv studieren durfte, oder sollte ich mich auf jene konzentrieren, die mich gerade wirklich interessieren? 

– Wie eignet man sich am besten ähnliche Sprachen an? Sollte ich auf vertiefte Grammatikstudien verzichten und mich gleich auf Texte stürzen? 

Ich habe in Ihren Podcasts schon viele Antworten auf diese oder ähnliche Fragen gefunden. Ich freue mich über jeden Beitrag, den Sie ins Netz stellen,

mit freundlichen Grüßen,

Andreas Herbst


My reply:

Sehr geehrter Herr Hebst,

Vielen Dank für Ihren Folgebrief mit seinen interessanten, rekursiven, ja metakognitiven Fragen.

Solche Fragen müssen in Bezug auf spezifische Fälle und in Bezug auf spezifische Ziele beantwortet werden. Lassen Sie mich daher bitte auf einen höchst interessanten Punkt beschränken, den Sie zu Recht erwähnen: Muß man jede Sprache, die man studiert, wirklich vollkommen beherrschen? Natürlich nicht! Warum fühlen wir uns dann dazu gezwungen?

Nehmen wir den Fall einer natürlich mehrsprachigen Person. Jemand, der in einer Region aufwächst, in der fünf oder sechs Sprachen gesprochen werden. Er mag etwas von allen können, aber sicherlich nicht in gleichem Maße und er wird sie nicht in den gleichen Situationen verwenden. Wir Karl V. (angeblich) sagte: „Spanisch spreche ich mit Gott, Italienisch mit Frauen, Französisch mit Männern und Deutsch mit meinem Pferd.“ Oder vielleicht war es eigentlich: „Italienisch lernte ich, um mit dem Papst zu sprechen. Spanisch spreche ich mit meiner Mutter. Englisch mit meiner Tante. Deutsch zu meinem Pferd und Französisch zu mir selbst.” Polygoten sollten den gleichen Spielraum haben wie mehrsprachige Menschen. Wir lernen Sprachen, weil sie uns verzaubern, aus Liebe und nicht aus Bedarf, und das sollte reichen.

Mit freundlichen Grüßen,

Alexander Arguelles

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